18. 11. 2010: ein kalter, diesiger November-Tag, an dem rund 200 Menschen mit Behinderung vor dem Sozialministerium demonstrieren. Sie protestieren gegen das Sparpaket der Regierung. „Hände weg vom Pflegegeld“, skandieren die Demonstrant_innen. Rollstuhlfahrer_innen sperren zeitweilig die Ringstraße vor dem Ministerium ab und fordern die Rücknahme der geplanten Einsparungen im Behindertenbereich.
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Autonome Behindertenbewegung
Aktivismus gehört zur Geschichte der autonomen Behindertenbewegung. 1981 blockierten zwanzig Rollstuhlfahrer_innen den Zugang zur Hofburg und protestierten gegen die Behindertenpolitik der Regierung. Besonders erfolgreich waren die Behindertenaktivist_innen im Jahr 1990. Nach einem zehntägigen Hungerstreik im Parlament wurde das bundeseinheitliche Pflegegeld beschlossen.
Sparen bei Barrierefreiheit
2010 waren die Demonstrant_innen weniger erfolgreich. Die Regierung beschloss das Sparpaket. Nicht nur das Pflegegeld wurde gekürzt, auch bei der barrierefreien Umgestaltung von öffentlichen Gebäuden wurde gespart. Bauliche Barrieren müssen somit erst Ende 2019 beseitigt sein und nicht schon vier Jahre zuvor, wie es vor der Einführung des Sparpakets festgelegt war. Barrierefreiheit ist jedoch zentral für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung.
„Barrierefreiheit bedeutet für mich, dass ich überall dabei sein kann, wo ich dabei sein will. Wo mir der Zutritt durch bauliche Barrieren verwehrt wird, das existiert für mich nicht und da fühle ich mich ausgeschlossen und diskriminiert“,
sagt Bernadette Feuerstein, seit langem in der autonomen Behindertenbewegung politisch aktiv und selbst Rollstuhlfahrerin.
Barrierefreies Bauen
Das Beratungszentrum des Sozialministeriums (Stubenring 1) ist ein Beispiel für einen Großteils barrierefrei gestalteten Zugang zu einer Serviceeinrichtung. Neubauten müssen seit 2006 barrierefrei gebaut sein, also für Menschen mit Behinderung ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sein. Das steht im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz von 2006, das jedoch nicht immer eingehalten wird. Erwin Riess, Autor und Aktivist in der autonomen Behindertenbewegung bringt ein Beispiel aus der Nobelgastronomie am Wörthersee, wo es häufig keine behindertengerechten Zimmer und Restaurants gibt.
Zahnloses Gesetz
Menschen mit Behinderung können sich im Falle einer Diskriminierung auf das Bundes- Behindertengleichstellungsgesetz berufen, das ein Diskriminierungsverbot enthält. Das Gesetz bietet jedoch keine rechtliche Durchsetzungsmöglichkeit. „Ich habe das Recht auf Schadensersatz. Ich habe aber nicht das Recht, dass diese Barriere beseitigt wird“, sagt Cornelia Scheuer, Beraterin und Mitarbeiterin von Bizeps, dem Zentrum für selbstbestimmtes Leben. Menschen mit Behinderung bleiben somit weiterhin auf die Hilfsbereitschaft anderer Menschen angewiesen und nicht nur diese.
„Es ist nicht nur die klassische Rollstuhlfahrerin, die Barrierefreiheit braucht. Es sind fast 80% der Bevölkerung, die davon profitieren“,
sagt Cornelia Scheuer.
Haben in der Vergangenheit vorwiegend Expert_innen darüber entschieden, welche barrierefreien Maßnahmen für Menschen mit Behinderung notwendig sind, entscheiden heute immer mehr selbst betroffene Personen über ihre Anliegen. Das ist auch ein Erfolg der politischen Arbeit der Selbstbestimmt Leben Bewegung in Österreich.
„Wir vertreten den Ansatz, dass wir selbst wissen, was gut für uns ist und wir selbst wissen, was wir wollen und dafür eintreten“,
sagt Bernadette Feuerstein, Vorsitzende der Selbstbestimmt Leben Bewegung.
Uneingeschränkte Mobilität ist ein wichtiger Bestandteil eines selbstbestimmten Lebens. Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Barrierefreiheit und diese bringt uns allen was.
Aleksandra Kolodziejczyk
Links:
Selbstbestimmt Leben Österreich
Bizeps
Behinderte Menschen in Not
Live-Sendung von der Demonstration am 18. November 2010
Artikel zu den 2010 von der Bundesregierung beschlossenen Kürzungen im Behindertenbereich, „Die Presse“, Print-Ausgabe, 30.04.2011, verfasst von Erwin Riess
Literaturempfehlung:
Erwin Riess: fünf Romane mit „Herr Groll“, Floridsdorfer Rollstuhlfahrer und Schiffsfanatiker als Hauptfigur
Neuer Roman: „Herr Groll und die ungarische Tragödie“ (2013, Otto Müller Verlag)